Meditieren auf die Dunkelheit 
Ein Interview mit Anando Würzburger
In unserer westlichen Kultur wird Dunkelheit oft mit etwas Negativem verbunden, mit etwas Gefährlichem, Teuflischem, Zerstörerischem. Osho hingegen sah in der Dunkelheit das eigentlich Göttliche, die Dimension der Ewigkeit. Anando bietet seit vielen Jahren die Dunkelheits- Meditation an, wo man die nährende Qualität der Dunkelheit erfahren kann.
Ishu: Du bietest seit vielen Jahren Dunkelheits- Meditationen an. Geht es bei dieser Meditation darum, sich mit dem Dunklen, dem eigenen Schatten auseinanderzusetzen?
Anando: Nein! Es geht eher im Gegenteil darum, einen anderen Zugang zu der Dunkelheit zu finden. In der Meditation können wir der positiven Dunkelheit begegnen. In unserer Kultur wird ja Dunkelheit immer mit dem Schatten, dem Negativen, dem Teuflischen oder mit Gefahren verbunden. Osho hatte da eine ganz andere Sicht: Er sah in der Dunkelheit das eigentlich Göttliche. Denn es ist das, was immer währt. Dagegen kommt das Licht und geht wieder, es hat einen Anfang und ein Ende. In dem wir auf die Dunkelheit meditieren, können wir ein Gespür für die Dimension der Ewigkeit entwickeln. Deswegen hat in der buddhistischen Tradition diese Meditation immer einen wichtigen Platz gehabt.
I: Wenn wir hier also von Dunkelheit sprechen, dann meinen wir das Göttliche, das Ewig- Währende und nicht das Dunkel- Gefahrvolle?
A: Ganz genau! Wie gesagt: Wir haben innerlich ein negatives Bild von Dunkelheit. Das ist ja auch sehr verständlich, denn instinktiv verbinden wir damit Gefahr. Das ergibt sich aus der Menschheitsgeschichte: Als wir noch in Höhlen lebten und draußen die Säbelzahntiger unterwegs waren, da konnte es im Dunklen gefährlich werden, weil man den Feind eben nicht sah. (lacht) Also bedeutete Dunkelheit erhöhte Wachsamkeit und erhöhte Alarmbereitschaft, die wir als Angst empfinden. Das ist ein ganz natürlicher Mechanismus, der in uns angelegt ist. Und gerade als Kinder erfahren wir das besonders stark, weil wir besonders schutzbedürftig sind. Deswegen sind Kinder nicht gern allein im Dunklen. Aber es gibt auch das, was Osho die „positive Dunkelheit“ nennt. Wir können da etwas erfahren, was uns bereichern und nähren kann.
I: Warum ist das so?
A: Im Licht sehen wir Objekte und wir sehen uns selber als Gestalt. Wir sehen uns als jemand, der jung oder alt ist, wir sehen einen Körper, den wir als schön oder als weniger schön empfinden und damit identifizieren wir uns. Wenn wir uns für die Dimension der Dunkelheit öffnen, erleben wir einen Raum, der ohne diese Identifikation ist. Uns zeigt sich das Formlose. Wir meditieren mit geöffneten Augen auf die Dunkelheit und in dem Moment, wo ich die Dunkelheit bewusst wahrnehme, kann ich auch leichter das Formlose in mir selbst wahrnehmen. Die Präsenz, die da ist – ohne den Körper. Eine Präsenz, die über den Körper hinausgeht und nicht an seine physi- schen Grenzen gebunden ist.
I: Aber ist nicht gerade der Körper unser Anker im Hier und Jetzt?
A: Ja, natürlich! Der Körper ist unser Tempel und wir müssen uns um ihn kümmern. Und trotzdem ist es wichtig, direkt zu erfahren: Ich bin die Präsenz und die wohnt im Körper, aber das heißt nicht: „Ich bin der Körper!“.
Osho hat uns das 100.000 Mal gesagt, aber wirklich gespürt habe ich das dann in der Dunkelheits-Meditation. Dafür müssen wir durch die Schicht der Unsicherheit, die aus unserem Verstand kommt. Unser Verstand klammert sich gerne an die Form, denn da fühlt er sich sicher. Die Form gibt Ordnung und Struktur, aber gleichzeitig entsteht durch die Identifi- kation mit dem Körper auch viel Leid. Vor allem, wenn man älter wird und der Körper nicht mehr so gut funktioniert. Durch die Identifikation wird es viel schwerer, solche Änderungen anzunehmen. Das bewusste Loslassen der Identifikation öffnet den Weg in die Präsenz. Wir begegnen der Dimension der Ewigkeit und können den Verstand loslassen. Das ist ein wichtiger Schlüssel, um dem Leben entspannter zu begegnen und die Angst vor dem Tod zu verlieren. Denn Sterben heißt ja auch, Körper und Verstand loszulassen. Genau das können wir in dieser Meditation üben.
I: Du praktizierst diese Meditation seit fast 30 Jahren. Wie hat sie dich verändert?
A: Für mich ist es jedes Mal ein Prozess, wo ich sehe, welche Dinge ich gerade festhalte. Die fallen dann im Laufe des Retreats von mir ab. Das ist wie eine Reinigung. Ich biete das Retreat ja immer zum Anfang des Jahres an – für mich ist das eine schöne Möglichkeit, das vergangene Jahr gehen zu lassen und neu zu starten. Jeder Konflikt und alles, was uns innerlich so beschäftigt hält, erzeugt ja auch immer eine Spannung in unserem Körper. Wenn ich ganz in die Dunkelheit hinein entspannen kann, dann kann sich das Nervensystem entspannen und dann kommt der Punkt, wo der Körper spürt, dass er frei von Spannung wird. Innerhalb der 3-5 Tage, die das Retreat dauert, komme ich an den Punkt, wo ich wirklich loslassen kann und wo sich dann ganz neue Lösungen entwickeln können.
I: Kannst du ein Beispiel für so ein Loslassen nennen?
A: Jeder, der selbstständig ist, weiß ja, dass es immer wieder Wellenbewegungen gibt. Nach sieben fetten Jahren folgt ein mageres. (lacht) So magere Jahre gibt es immer wieder und unser Verstand neigt dann dazu, schnell etwas tun zu wollen und in Aktion zu gehen. Ich habe für mich erfahren, wie gut es in so einer Situation tut, statt in Aktionismus zu verfallen, auf dem Boden des Nichtstuns anzukommen.
Ich muss da immer an eine Erfahrung denken, die ich mal in Amerika gemacht habe. Wir trieben auf aufgeblasenen LKW-Reifen einen Fluss hinunter und kamen an einen Wasserfall, wo das Wasser 2-3 Meter hinunterfiel. Das Wasser drückt einen da richtig tief hinunter und wenn man versucht, schnell wieder hoch zu kommen, wird es ein endloser Kampf. Doch es gibt diesen Moment, wo das Wasser einen wieder freigibt und man ganz von allein wieder auftaucht. Doch wenn wir in Panik geraten und anfangen zu strampeln, dann dauert es viel länger.
In einer Krisensituation fängt unser Verstand meist sofort an zu strampeln. Er entwirft Strategien und will etwas tun – dabei sind oft auch äußere Einflüsse am Werke, die nicht un- bedingt in unserer Macht stehen. Gerade da ist es so hilfreich, wenn man loslassen kann: „Ja, ich stecke gerade in einem Tief und ich habe alles getan, was ich tun kann. Und jetzt lasse ich los und entspanne in das, was das Leben mir jetzt bringen will.“ Ich konnte dann wieder vertrauen, dass die Welle kommen wird, die mich auch wieder hochträgt. Auch wenn es in der Dunkelheits-Meditation manchmal ein paar Tage dauern kann, bis man aus dem Strampeln hinaus kommt.
I: Wir leben ja in einer Zeit der Selbst-Optimierung: Gesunde Ernährung, Sport und Yoga stehen hoch im Kurs. Und zu dieser Optimierung gehört die Ausrichtung auf das Licht – für das Dunkle ist da eigentlich kein Platz ...
A: Dazu passt, dass wir in unserem Umfeld von sehr viel künstlichem Licht umgeben sind. Dieses Licht wirkt unmittelbar auf unser Nervensystem: Es regt uns ständig an und führt dazu, dass unsere Bio-Uhr aus dem Gleichgewicht gerät. In der chinesischen Medizin ist Licht Yang, – das männlich Expansive, das Tun und das Machen. Die Dunkelheit ist Yin – das Haltende, das Nährende, das, wo wir unsere Batterien aufladen können. Dafür ist in unserer Kultur zu wenig Platz. Die Dimension von Loslassen, Gehalten- und Genährtwerden bräuchte in unserer Gesellschaft viel mehr Wert- schätzung. In der Dunkelheits-Meditation können wir erleben, dass die Existenz uns hält, dass sie wie eine große Gebärmutter ist.
Ich habe das in diesem Jahr ganz sinnbildlich erfahren, als ich den Kiyomizu-Dera Tempel in Kyoto besucht habe. Das ist der erste große Tempel, der errichtet wurde, als die Buddhisten aus Indien nach Japan kamen. Die Geschichte des Tempels reicht bis ins Jahr 798 zurück, die heutigen Gebäude wurden allerdings im Jahr 1633 errichtet. Eine wunderschöne Holzkonstruktion (ohne Nägel!) mit einer 13 Meter hohen Terrasse am Berghang. Dort gibt es ein Seitengebäude Zuigu Hall, wo man entlang dunkler Gänge zu einem „Wunschstein“ laufen kann. Man läuft in kompletter Dunkelheit die Gänge entlang, wobei man sich an einer Reling mit großen Gebetsperlen orientiert. Das war also auch eine Meditation in der Dunkelheit und ich habe mir den Raum genommen, ganz bewusst Schritt für Schritt, Perle für Perle zu gehen. Schließlich kam ich zu dem Stein, der ganz leicht beleuchtet war. Und dann sah ich zu meiner großen Überraschung und Freude, dass dieser Stein das Sanskrit-Zeichen für „Hara“ trug.
Auch die Buddhisten damals hatten also das Bild, dass man in den Bauch der großen Mutter geht und dass man in diesem Bauch alle Wünsche, sein Verlangen und seine Ängste loslassen kann, um dann seinem Wunsch frei von innerem Kampf zu begegnen. Es geht darum, in diesem ganz existenziellen Raum des Haras anzukommen, der jenseits aller Wünsche ist. Für mich war das wie eine Bestätigung, denn ich hatte vor vielen Jahren in Pune ganz intuitiv damit begonnen, die Dunkelheits-Meditation als Teil des Hara-Trainings zu sehen. Und jetzt stand ich in diesem alten Tempel, wo genau diese Verbindung so hergestellt worden war. Das war ein sehr tiefgreifendes Erlebnis für mich – zumal es auch noch am Tag meines Geburtstags geschah. (lacht)
I: Ist die Dunkelheits-Meditation eigentlich für jeden geeignet und braucht man eine gewisse Vorerfahrung?
A: Wenn es einem schwerfällt, längere Zeit still zu sitzen, sollte man sicher nicht als Erstes auf die Dunkelheit meditieren. Es ist natürlich leichter, im Dunklen in die Stille zu kommen, wenn man die Präsenz des Beobachters schon zuvor in sich erfahren hat. Wenn man dann die tiefe Stille und Präsenz in der Dunkelheit erfährt, kann man das auch als Raum in sich selbst spüren. Osho nennt das: „Trage die Dunkelheit in dir.“ Und wenn dir dann im täglichen Leben missliche Umstände begegnen, kannst du sie in diesem Raum der Dunkelheit in dir auflösen. Dann spürst du: Es gibt diesen dunklen Raum in deiner Mitte, wo du reinfallen lassen kannst, was dich bedrückt oder ärgert. Statt auf Spannungen einzusteigen, kannst du sie in der Dunkelheit auflösen.
I: Gilt das auch für Depressionen – kann man die auch in der Dunkelheit auflösen?
A: Nein, da würde ich diese Meditation eher nicht empfehlen. Denn gerade in so einer Situation wird die negative Deutung der Dunkelheit doch sehr überwiegen. Dann ist es besser, auf etwas Helles und Schönes zu meditieren, was unmittelbar Freude bereitet. In den Himmel zu schauen, wie die Wolken wandern oder im Park den Kindern beim Spielen zuschauen. Anders ist es natürlich, wenn man schon einmal die Erfahrung gemacht hat, dass einen die Dunkelheit nähren kann. Dann kann sie vielleicht auch in so einer Situation helfen.
Das Interview führte Ishu Lohmann von der deutschen Osho Times