inselWie eine stille Insel

Die Transformation der Gefühle durch das Hara

Ein Interview von Ishu Lohmann mit Anando Würzbuger.

Vor nunmehr fast 30 Jahren ging Anando nach Pune und wurde Schülerin des indischen Mystikers Osho. « Ich wollte den Platz in mir finden, der heil und unberührt ist.» Anando fand diesen Platz im Hara. Alte östliche Kulturen betrachten diese Region im Bauch, mit seinem zentralen Punkt etwa fünf Zentimeter, drei Finger breit unter dem Bauchnabel, als Zentrum unseres Seins. Von daher auch der Ausdruck Harakiri : wer das Hara tötet, zerstört die Quelle des Seins. Kann uns der Kontakt mit unserem Zentrum helfen, Abstand zu unseren Gefühlen zu finden, wenn diese verrückt spielen? Ist das Hara so etwas wie die Insel im tosenden Meer der Emotionen? Dazu mehr im folgenden Gespräch mit Anando.

? Wenn jemand gerade voller Wut ist, kann ihm da der Kontakt mit seinem Hara helfen, wieder runterzukommen, wieder zu sich selbst zurückzukehren ?

! Wenn wir heftige Emotionen haben – wie zum Beispiel starke Wut – passiert oft folgendes : unsere Energie schiesst nach oben in den Kopf. Wir sind uns dann unserer Füsse nicht mehr bewusst und haben keinen Kontakt mit der Erde. Wenn wir wieder wahrnehmen, wie unsere Füsse auf der Erde stehen, kühlt unser System von selber ab. Ein gutes Beispiel dafür sind die Samurais: Sie schauen mitten in ein gezücktes Schwert und bleiben vollkommen zentriert und fallen nicht in die Angst. Das geht nur, weil sie Boden unter den Füssen haben und sich ihres Haras gewahr sind. Das Hara ist der Platz des Seins. Dort sind wir mit der Existenz verbunden und sind uns unserer Verwurzelung in der Kraft der Erde bewusst. So können wir tatsächlich « runter-», nämlich zurück zur Erde kommen.

? Das heißt, wir unterdrücken nicht die Wut, sondern lenken unsere Aufmerksamkeit auf unsere Füsse und in unser Hara ?

! Dies geschieht allerdings nicht im Sinne von Konzentration, sondern dadurch, dass wir uns mit dem Hara verbinden. Das Hara ist der Raum hinter den Polaritäten von Ying und Yang, den Energien von Himmel und Erde, von Licht und Schatten oder von Leid und Freud. Es ist der Raum von Bewusstsein, ein Raum nicht urteilender Präsenz. Hier können auch unsere Gefühle einfach da sein. Sie werden gehalten. Im Hara sind wir getragen von der grenzenlosen Kraft des Universums. Wenn wir uns mit diesem Bewusstsein verbinden, dann können wir unsere Gefühle wahrnehmen, ohne mit ihnen verstrickt zu sein. Wir können unsere Wut betrachten, ohne mit ihr identifiziert zu sein. Und wir können lernen, uns mit der Erde zu verbinden und unsere Energie in die Erde abzuleiten. Das ist auch eine Technik aus den Kampfsportarten. Wenn du die Samurais beim Schwertkampf beobachtest, so stellst du fest, dass sie auf eine Art immer « cool » bleiben. Sie sind immer in der Mitte und verfallen nicht in die absolute Agression, sondern sie behalten die Agression in Zügeln.

? Das ist aber eine ganz andere Herangehensweise als zu sagen : « Agiere deine Agressionen aus. Lass es raus ! Lebe es aus ! »

! Das stimmt. Es ist eine Vorgehensweise, die die Gefühle integriert. Was aber nicht heißt, dass kathartische Methoden nicht weiter ihren Platz haben. In bestimmten Situationen sind sie sehr wertvoll. Wenn wir zum Beispiel unsere Gefühle immer nur unterdrückt haben, immer nur brav und nett waren, dann ist es sehr hilfreich, auch mal die Wut rauszulassen. Wenn es uns verboten war, die Wut auszudrücken, dann wird der Kanal schon beim ersten Impuls vom Unterbewusstsein zugemacht. Das wiederum kann einen enormen Stress im System erzeugen. Die Energie wird gestaut und nicht abgeleitet. In solch einem Fall ist es gesund, die Gefühle rauslassen zu können. Wir brauchen unsere Gefühle, aber wir müssen auch lernen, dass wir uns nicht in ihnen verlieren. Sonst würden wir ständig von ihnen hin und hergebeutelt. Da gibt es auch unterschiedliche Typen: Manche Leute haben zuviele Gefühle in ihrem System. Für die ist es wichtig, Abstand zu nehmen, statt in den Ausdruck zu gehen. Denn letzteres ist ja gar nicht ihr Problem. Andere müssen lernen, ihren Gefühlen erstmal Ausdruck zu verleihen. Weder das eine noch das andere ist das Optimum. Auch da gilt es die Mitte zu finden. Wir brauchen beides: einmal die Fähigkeit in die Emotionen gehen zu können, ohne dass sie im Keim erstickt werden und sich dann zum Beispiel als Kopfschmerzen bemerkbar machen. Und das andere ist die Fähigkeit, Abstand nehmen zu können und nicht zum Spielball unserer Gefühle zu werden. Wenn wir immer nur unserem ersten Impuls folgen würden und den ausagieren, kämen wir nicht weit. Wir würden unsere Energie ständig aus dem Fenster werfen. Insgesamt können wir drei Schritte unterscheiden : Erstens geht es darum, Gefühle überhaupt wahrzunehmen. Zweitens darum sie anzunehmen. Und schließlich haben wir dann die Wahl, die Gefühle auszudrücken oder sie zu transformieren.

? Wie kann man Gefühle transformieren ?

! Wenn wir zurückgehen zum Beispiel mit der Wut: Letztlich ist Wut nichts anderes als Energie. Wir können diese Energie ausdrücken, indem wir auf ein Kissen schlagen oder indem wir sie in die Erde ableiten. Wir können aber auch die Fülle der Emotion als Lebendigkeit genießen. Wut kann zu Kreativität oder zu Mitgefühl werden. Ein anderer Fall: Ein Musiker erzählte mir einmal, dass er vor jedem Auftritt Lampenfieber habe und das auch brauche, um ein gutes Konzert geben zu können. Das Lampenfieber und die Angst werden zu Inspiration transformiert. Das beinhaltet aber eine Umdeutung: Du hörst auf, das Lampenfieber zu verurteilen und fängst an zu sehen, dass du die dahinter stehende Kraft nutzen kannst. Eine andere Art mit der Angst umzugehen, ist die Erdung. Das ist ja auch bei Kampfsportarten das A und O. Du übst auch in Gefahrensituationen mit der Erde und deiner Mitte verbunden zu bleiben. Interessant ist, dass sich bei diesem Prozess der Zentrierung, der Desidentifikation und der Schulung der eigenen Achtsamkeit unser Gehirn verändert. Die neuralen Netzwerke bilden sich anders aus und wir schaffen ein neues Gleichgewicht im Gehirn.

? Wer aber Schwierigkeiten hat, überhaupt seine Emotionen zu zeigen, dem würdest du empfehlen erstmal in einen kathartischen Prozess zu gehen ?

! Das kann ich so allgemein nicht sagen. Denn auch da ist es wichtig, dass überhaupt eine Verbundenheit da ist. Wenn du keinen Boden unter den Füssen hast und gehst dann in deine Emotionen, kann das erst Recht ins Bodenlose führen. Alles wird dann noch chaotischer. Deswegen lege ich großen Wert auf Meditation, die diesen Raum der Präsenz durch regelmäßiges Üben entstehen lassen.

? Und dieser Raum ist immer erreichbar, auch wenn wir in einem wilden Sturm von Emotionen stehen ?

! Ja, das kann man tatsächlich lernen. Das konnte ich bei mir sehen und auch bei anderen. Beziehungsstress ist dafür ein gutes Testfeld. Ich kann sagen: okay, ich komme wieder runter, auch wenn mein Freund mich gerade zu verlassen scheint. Da ist ein Raum in mir, wo ich Pause machen kann. Dort spüre ich meine Füsse, meinen Bauch und meinen Atem. Dann kannst du zwar manchmal auch nachts nicht schlafen und bist gebeutelt, aber du kannst lernen, immer wieder zu diesem Raum der Stille in dir zurückzukehren. Erstmal wieder bei dir selbst ankommen, bevor du dich neu beziehst. Denn sonst versuchst du das Chaos zu flicken und den anderen so zu gestalten, dass du entspannen kannst. Dadurch entsteht neues Gerangel – ein Feld für Manipulationen. Du gehst raus aus dem Clintch. So wie Buddha gesagt hat: warte erstmal 24 Stunden und reagiere nicht aus der Wut heraus. Du gehst zurück zu dem Beobachter, kühlst ab und kannst dann handeln, ohne aus der Reaktion heraus zu agieren.

? Das setzt einiges an Übung voraus. Kann die Hara-Massage auch ein Weg sein, diesen Raum der Stille in sich zu entdecken ?

! Das geht über die Massage sehr gut. Bei der Hara Awareness Massage sind deine Hände wie Fühler, mit denen du aufspürst, wo zu viel und wo zu wenig Energie ist oder wo der Energiefluss blockiert ist. Da wir zivilisierten Menschen uns zumeist im Kopf, auf der Ebene des Denkens aufhalten, ist es gut, die Massage mit den Füssen zu beginnen. Da geht es um Erdung: vom Kopf in die Füsse. Dann massieren wir den Rücken, das Becken und die Beine. Vor dort nähern wir uns behutsam dem Hara-Zentrum. Wir können unser Hara auch selber stärken, indem wir es mit beiden Händen kreisförmig im Uhrzeigersinn sanft massieren. Bei der Massage bewegen wir uns von der Ebene des Denkens und Fühlens zur Ebene des Seins. Das ist eine Ebene, die uns aus anderen Zusammenhängen bekannt ist. Wir kennen sie aus unserer frühen Kindheit oder wenn wir in der Natur sind. Doch oft verlieren wir im Laufe unseres Lebens den direkten Zugang zu dieser Ebene. Durch die Massage oder auch durch Hara-Meditation können wir sie neu erfahren.

? Du sagst, wir kennen diese Ebene des Seins aus unserer frühen Kindheit. Warum verlieren wir später den Zugang ?

! Wir werden mit dem Hara geboren. Durch unsere Konditionierung, durch Ideen, die uns vermittelt werden, wie wir sein sollten, wird dieser natürliche Zugang verbaut. Etwas anderes kommt hinzu: als nicht geborenes Wesen ruhen wir im Mutterleib und werden mit allem versorgt, was wir brauchen. Dann wirst du geboren und sofort entsteht eine Bedürftigkeit: du brauchst Wärme, Essen und Liebe. All das kommt von außen und so orientieren wir uns nach außen. Je weniger unsere elementaren Bedürfnisse dann erfüllt werden, desto größer wird die Orientierung nach außen. Umgekehrt bist du mit deiner Mitte verbunden, wenn deine Bedürfnisse erfüllt werden. Bleiben sie in deiner Kindheit zu oft unerfüllt, wartest du, dass jemand kommt und sie befriedigt. Das schafft abhängige Jugendliche und Erwachsene. Diese Außenorientierung bringt uns weg aus unserer Mitte. Durch die Fähigkeit zu uns selbst zurückzukommen und unsere essentiellen Bedürfnisse und emotionalen Impulse wieder wahr zu nehmen, verändert sich unser gesamtes Leben. Wir nehmen es wieder selbst in die Hand, uns um unsere Bedürfnisse zu kümmern. Ich konnte beim Hara-Training immer wieder beobachten, wie sich auch das Beziehungsmuster von Leuten verändert. Und zwar nicht durch bewusstes Darüber-Nachdenken, sondern einfach dadurch, dass ein neuer Schwerpunkt gesetzt wird. Wir beziehen uns und bleiben doch wir selbst und hören auf, faule Kompromisse zu machen. Das heißt ja nicht, dass man dann ins Gegenteil geht und sagt: «ich brauche nichts!» Nein, ich kann meine Bedürfnisse zeigen und dennoch dem anderen in Freiheit begegnen, ohne von seinem Wohlwollen abhängig zu werden. Durch die Zentrierung auf unser Hara werden wir nicht zum Mönch, der emotionslos ist oder den Emotionen feindlich gesonnen ist. Nein, die Emotionen sind im Hara integriert. Da ist ein Raum, der die Emotionen trägt.

? Du kannst dich also weiter verlieben und deine Emotionen ausleben?

! Ja. Und je mehr du bei dir selbst bist, desto mehr kann auch wirkliche Intimität mit deinem Partner entstehen. Das kann vielleicht deinem Partner auch Angst machen. Vielleicht hat er das Gefühl, dass du weniger in der Beziehung bist, dass du ihn weniger liebst. Und natürlich hat sich energetisch etwas verändert, wenn du aus deinem Zentrum heraus handelst. Du trittst heraus aus einem ungesunden symbiotischen Verschmelzen. Da ist es wichtig, dass sich auch der Partner weiter entwickelt und nicht stehen bleibt.

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